»Passt bloß off!«
Dresdner Industriekletterer arbeiten in Schwindel erregenden Höhen
Veröffentlicht am Donnerstag, 18. Oktober 2012
Der Arbeitsplatz vom Dresdner Höhenarbeiter Lars Thielsch ist doch etwas ungewöhnlich: Nur gesichert von zwei Kletterseilen hing der 25-Jährige an einem Kraftwerksschornstein und kontrollierte den Zustand der Esse.
Plauen. 215 Meter Luft unterm Hintern – das ist selbst für den Dresdner Höhenarbeiter Lars Thielsch eine Seltenheit. Nur gesichert von zwei Kletterseilen hing der 25-Jährige an einem Kraftwerksschornstein und kontrollierte den Zustand der Esse. »Man merkt, dass der Wind randrückt. Das schwankt schon um einige Zentimeter.«
Meist arbeiten Thielsch und seine Kollegen an Gebäuden, die wesentlich niedriger sind – aber hoch genug, um Menschen mit Höhenangst Schweißperlen auf die Stirn zu treiben. Die Männer reinigen und warten Kraftwerksanlagen, putzen die Glasfassaden von Hotels und Bürogebäuden, montieren riesige Werbebanner und fällen Bäume. Im Winter entfernen sie Schnee von Dächern und Eiszapfen von Dachrinnen. Anders als ihre Berufsbezeichnung nahelegt, kraxeln Industriekletterer jedoch nicht an Gebäuden hoch, sondern seilen sich von oben ab. Das sei für die Kunden viel billiger als ein Gerüst aufbauen zu lassen oder einen Hubsteiger zu mieten, so Thielsch. Entsprechend gut läuft seine Firma »Vertikalis«, die er im August 2010 mit Kletterkumpel Franz Müller gegründet hat. Anfangs mussten fünf Quadratmeter Garage als Büro herhalten, später nisteten sich die Jungunternehmer in der eigenen WG ein. Inzwischen hat die Firma, die am Zelleschen Weg ihren Sitz hat, vier Angestellte, Ende 2012 steht der Umzug in ein Bürohaus an der Bamberger Straße an. Endlich genug Platz für Arbeits- und Sicherungsgeräte, Helme und viele Kilometer Seil!
Sicherheit steht an erster Stelle: Der Kletterer hängt immer an zwei Seilen, das Material hält mindestens 2,2 Tonnen und wird regelmäßig erneuert.
Höhenarbeiter müssen etliche Kurse und Prüfungen durchlaufen. Trotzdem sorgen sich die Eltern um ihre Jungs: »Passt bloß off!« Bisher habe es weder Abstürze noch schlimme Wunden gegeben, sagt Thielsch und klopft drei Mal auf den Holztisch im Büro.
Nur einmal hing sein Leben sprichwörtlich am seidenen Faden: Thielschs Sicherungsseil lief über eine Fensterkante, die wie ein scharfes Messer wirkte. Das halb aufgedröselte Seil hängt heute zur Mahnung im Büro. Schließlich hat der Höhenarbeiter beruflich noch einiges vor: »An der Frauenkirche würde jeder gern mal dranhängen«, so Thielsch. Alternativ würde er auch bei Fernsehturm, Militärhistorischem Museum oder Dynamo-Stadion nicht Nein sagen.
Einen privaten Kletter-Traum hat er sich schon erfüllt: In drei Tagen Schinderei bezwang er die fast 1000 Meter hohe Granitwand des El Capitan in Kalifornien.